#lisboa: Das Arbeiterdorf mitten in der Stadt

Für eine gute Stadttour bin ich grundsätzlich recht schnell zu begeistern. Es sei denn, ich kenne die Stadt schon von vergangenen Besuchen. Dann muss etwas Besonderes her: Zum Beispiel ein feministischer Spaziergang mit Rita von „Showmelisbon“ durch das Arbeiterviertel Graça.

Lissabon: Die Stadt der – offiziell – 7 Hügel und gefühlt 496 Hügel. Wer Lissabon kennt, weiß: Die Stadt ist kaum mit einer anderen europäischen Hauptstadt zu vergleichen. Da wundert es nicht, dass es ein verschlafenes kleines Arbeiterviertel mittendrin gibt.

Viertel Graça

Apropos Hügel – wir befinden uns hier am höchsten Hügel der Stadt. Ende des 19. Jahrhunderts gab es in Lissabon für die steigende Anzahl an Arbeiter*innen Wohnungsnot. So entstanden in diesen Jahren über 300 Arbeiterdörfer und Wohnkomplexe („Vilas Operárias“). Die wenigen, die heute noch erhalten sind, wurden zum Teil saniert und sind bereit, entdeckt zu werden. Der Bau dieser Dörfer wurde 1930 verboten.

Estrela d’Ouro – Goldener Stern

Agapito Serra Fernandes ließ das Dorf 1909 errichten, um seine Arbeiter*innen unterzubringen, die bislang in Zelten in der Umgebung leben mussten. Das Siegel der Familie, der goldene Stern, ziert alle Wege und Häuser der Nachbarschaft. Die Straßen sind nach weiblichen Familienmitgliedern von Agapito Serra Fernandes benannt: Josefa Maria, Virgínia und Rosalina. Ein Teil des Projekts war auch das ehemalige Kino im Viertel. Der erste Tonfilm in Portugal wurde hier gezeigt.

Estrela d’Ouro
Die Sterne weisen den Weg.

Vila Berta

Das „Dorf“ ist ein besonders hübsches Beispiel an Arbeiterunterkünften. 1908 erbaut, haben alle Häuser 2 bis 3 Stockwerke und Balkone oder Terrassen, die auch heute noch liebevoll von deren Bewohner*innen geschmückt werden. Benannt wurde das Dorf nach der Tochter des Eigentümers. Jeden Juni erwacht die Gasse für einige Tage zum Leben wenn das Santo António Fest hier gefeiert wird.

Vila Berta
Street Art am Eingang zur Gasse.

Vila Sousa mit Botequim-Bar

Vila Sousa ist ein Arbeitergebäude, das 1890 erbaut wurde. Normalerweise sind die Tore geschlossen. In Zeiten wie diesen, wo kaum Tourist*innen unterwegs sind, konnte ich einen Blick in den Innenhof erhaschen und ein Gefühl dafür bekommen, wie die Menschen damals lebten. Die Botequim-Bar wurde um 1970 von Natália Correia eröffnet. Bis heute wurde sie kaum verändert, um den Geist von damals aufrechtzuerhalten.

Vila Sousa außen
…und innen.

Let’s talk about Feminism!

Zur Erinnerung und bevor jetzt der ein oder andere aufhört zu lesen: Feminismus ist keinesfalls ein Thema, für das sich nur Frauen interessieren dürfen – ganz im Gegenteil. Es geht um Gleichberechtigung, gleiche Rechte für jegliches Geschlecht und Ablehnung von Diskriminierung jeder Art. Fakt ist jedoch: Frauen hatten in der Vergangenheit (und leider zum Teil heute noch) nicht die gleichen Rechte wie Männer, bzw. mussten für diese um einiges länger kämpfen. Vor allem in Portugal lebten sie bis zur Revolution 1974 mit teils extremen Einschränkungen. Familienoberhaupt war der Ehemann, er konnte entscheiden, ob seine Frau arbeiten ging oder nicht. Ins Ausland durften Frauen nur mit Erlaubnis des Gatten, das Wahlrecht genossen nur wenige Frauen mit höherem Bildungsgrad. Tötete der Mann seine Frau wegen ihres Ehebruchs, wurde er dafür nicht bestraft – um nur einige der damals geltenden Bedingungen zu nennen. Ich durfte während dem Spaziergang über ein paar herausragende weibliche Persönlichkeiten, die für die Rechte der Frauen eintraten, mehr erfahren:

Angelina Vidal war Schriftstellerin und bekannt für ihren Einsatz für die Rechte der Frauen und für die Bildung von Frauen. 1886 publizierte sie „Às operárias portuguesas“ (To the Portuguese workers) und motivierte damit die Arbeiterschaft den 12-Stunden-Tag zu fordern (damals waren noch 15 Stunden üblich). Da sie aufgrund ihrer politischen Aktivitäten nach dem Tod ihres Gatten keinen Anspruch auf Witwenpension hatte und sich kaum über Wasser halten konnte, wurde sie finanziell von den Arbeiter*innen der Tabakfabrik unterstützt.

Eine Gedenktafel an ihrem ehemaligen Haus ehrt Angelina Vidal.

Natália Correia war ebenfalls Schriftstellerin und Intellektuelle und nach der Revolution eine der ersten Frauen im portugiesischen Parlament. Während der Diktatur wurden ihre Werke, die die Rechte der Frauen behandelten, zensiert und sie wurde dafür vor Gericht gestellt. Sie gründete die Botequim-Bar, ein Treffpunkt für Lissabons Intellektuelle, die heute noch in der Vila Sousa existiert. 1979 schrieb sie die Regionalhymne für die Azoren. Nach ihr sind eine Bibliothek, eine Schule in Graça und mehrere Straßen in Lissabon benannt.

Rua Natália Correia

Maria Lamas wurde berühmt, da sie offen die Stellung der portugiesischen Frauen und deren fehlende Rechte in Frage stellte. 1948 veröffentlichte sie „As Mulheres do Meu País“ (Women of my country), den ersten Bericht über die Lebensbedingungen portugiesischer Frauen. Die Zensur und die mehrmaligen Inhaftierungen frustrierten sie, sodass sie nach Paris auswanderte und portugiesische Regime-Flüchtige unterstützte. Maria Lamas ist heute Namensgeberin für viele Straßen und Parks in Portugal.

Die 3 Marias veröffentlichten 1972 ein feministisches Manifest, die „Novas Cartas Portuguesas“ (Neue portugiesische Briefe). Vom Regime als Pornografie deklariert, wurde es sofort verboten. Über Maria Isabel Barreno, Maria Teresa Horta und Maria Velho da Costa (Três Marias) wurde der Prozess eröffnet. Gemeinsam mit ihnen wurde auch Natália Correia für die Herausgabe des Werks angeklagt. Das Buch hat nach wie vor große politische Brisanz und ist eines der am häufigsten übersetzten portugiesischen Bücher.

Amália Rodrigues, eine Frau die in keiner Aufzählung von portugiesischen Persönlichkeiten fehlen darf. Die Königin des Fados sang 50 Jahre lang den Portugies*innen von der Seele. Fado ist mittlerweile immaterielles Weltkulturerbe. Amália sorgte dafür, dass er über die Grenzen Portugals hinweg bekannt wurde. Das Salazar-Regime wollte sie damals für seine Propaganda nutzen, sie unterstützte jedoch heimlich finanziell die Kommunistische Partei. Zu ihrem Tod 1999 wurde drei Tage Staatstrauer verhängt.

Die Frau, die die Nelken brachte

Jede*r kennt sie: Die Bilder der portugiesischen Revolution mit Soldaten, die rote Nelken in ihren Gewehrläufen hatten. Aber wieso? Wer brachte die Nelken? Die Frau der Stunde: Celeste Martins Caeiro, die heute noch in Lissabon lebt. Damals arbeitete sie in einem Restaurant, das an jenem schicksalsträchtigen Tag sein einjähriges Bestehen feiern wollte. Für das Fest besorgte der Wirt Nelken, die an die Kundschaft verteilt werden sollten. Als in den frühen Morgenstunden des 25. April 1974 die Revolution begann, war für ihn klar, sein Restaurant bleibt vorerst geschlossen. Da er keine Verwendung mehr für die Nelken hatte, schenkte er sie seiner Kellnerin Celeste. Als sie auf ihrem Heimweg auf Soldaten traf, die sie um Zigaretten baten, konnte sie ihnen nur die Nelken anbieten. Die Soldaten steckten die Blumen in ihre Gewehrläufe und im Laufe des Tages versorgten viele Floristen die Soldaten in der ganzen Stadt mit Nelken. So schenkte eine zufällige Begegnung von Celeste Caeiro der Nelkenrevolution ihren Namen.

Street Art von Shepard Fairey in der Rua Natália Correia

Abstecher nach Alfama

Das älteste und verwinkelste Viertel von Lissabon hat seinen ganz eigenen Charme. Rentnerinnen bessern sich hier mit dem Verkauf von portugiesischen Spezialitäten direkt aus dem Wohnzimmer ihr Einkommen auf. Die Frauen – die „Almas“ (Seelen) der Gegend bekamen ein schönes Andenken. Ihre Portraits inklusive Kurzbiografie zieren die Hauswände der Nachbarschaft.

Ginja (Weichsellikör) direkt aus dem Wohnzimmer von Dona Cândida.
Nur ein paar Meter weiter ihr Porträt an der Hausmauer.

Fazit: Es ist wunderbar zu sehen, wie den Frauen von Portugal heutzutage gedacht wird, auch wenn dafür ungefähr 287 Hügel erklommen werden müssen. Meiner Meinung nach braucht es definitiv mehr Frauen wie Rita auf dieser Welt und mehr Femwalks in unseren Städten!

Link zur Tour: Showmelisbon